Download Papier "Alleingang" oder Kooperation? (PDF)
Der Auftrag zur Verteidigung der Bevölkerung und des Territoriums im Falle eines Angriffs ist in der Bundesverfassung klipp und klar festgelegt. Die Strategiegruppe hat am 24. Januar 2022, also auf den Tag genau einen Monat vor Ausbruch des brutalen Krieges in der Ukraine, ihren Bericht publiziert. Sie hat die Fragen damit schon vorweggenommen, welche jetzt Parlament, Regierung und Verwaltung intensiv beschäftigen. In ihrem Bericht hat sie sich der Fragen angenommen, die sich logisch und in Hinblick auf die Zukunft zwingend ergeben mussten. Diese Fragen wurden von den Sicherheitspolitikerinnen und -politiker über viele Jahre hinweg systematisch ausgeblendet, und damit verknüpft wurde auch die Neutralitätspolitik völlig tabuisiert.
«Pro Militia» hatte den Mut, nicht nur die Sicherheitspolitik in Frage zu stellen, sondern auch dem Tabu der Neutralitätspolitik nicht mehr länger auszuweichen. Sie hat die beiden Themen in aller Ehrlichkeit auf den Tisch gelegt.
Was hat «Pro Militia» schon vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine gefordert?
«Pro Militia» fordert vom Bundesrat schon vor dem Krieg in der Ukraine eine intensivere Zusammenarbeit mit der NATO. Bereits 1993 beschäftigte sich der Bundesrat in einem «Bericht zur Neutralität» [2] mit dieser Forderung. Selbstverständlich müsste eine zukünftige Kooperation mit der NATO – ohne Bündnisbeitritt – nach dem bereits in der Antike gültigen Grundsatz: «Ich gebe, damit Du mir gibst» gestaltet werden: Die NATO würde Beiträge an die Schweiz leisten. Eine repräsentative Umfrage des Schweizer Forschungsinstituts Sotomo (April 2022) mit 2'000 Teilnehmenden zeigte, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung (56 %) für eine engere Zusammenarbeit der Schweiz mit dem NATO Verteidigungsbündnis ausspricht.
Zwei zentrale Fragen und ihre Begründung
Die Fragen sind:
- Kann die Schweizer Armee mit ihrer aktuellen Ausstattung und dem aktuellen Budget von rund 0,7% des Bruttoinlandprodukts (BIP) ihren verfassungsmässigen Auftrag in Zukunft noch erfüllen? Zum Vergleich: Die NATO verlangt von ihren Mitgliedern 2.0% des BIP für Verteidigungsausgaben.
- Was kann die Schweiz von Anderen erwarten, wenn ihre Durchhaltefähigkeit in einem Abwehrkampf erschöpft ist? Zu welchem Preis? Und zu welchen Vorleistungen?
Die Kampfformen der Zukunft erfordern weitgefächerte Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen. Deshalb muss eine Doktrin entwickelt werden, die zeitlich und topographisch weit vorausreicht. Sie muss ohne zeitraubende Ergänzungen für ganz unterschiedliche Fälle gültig sein. Weit-Voraus-Denken ist also das Gebot der Stunde. So darf die Fokussierung der Strategie in der Verteidigungspolitik auf die hybride Konfliktführung z. B. nicht als Vorwand für einen zukünftigen Verzicht auf schwere Kampfmittel dienen.
Welche Konsequenzen sind mit der Antwort auf die Fragen verknüpft?
Wenn ein Staat seine Handlungsfreiheit zu verlieren droht, sucht er reflexartig Unterstützung von «aussen». Es entstehen Schicksalsgemeinschaften. Eine Schicksalsgemeinschaft wird im Ernstfall jedoch nur dann funktionieren, wenn schon in Friedenszeiten an sie gedacht worden ist. Für die Schweiz bedeutet diese Situation zwingend, bei der Gestaltung der sicherheitspolitischen Zukunft eine Kooperation mit der NATO zu suchen. Wie schon erwähnt: Die Schweiz kann nicht erst dann nach Unterstützung Ausschau halten, wenn der Feind auf Schweizer Territorium eingedrungen ist.
Welchen Einfluss hat die Forderung der «Pro Militia» auf die Neutralitätspolitik der Schweiz?
Der Bundesrat beauftragte 1991 eine Studiengruppe, die dauernde Neutralität der Schweiz gründlich zu analysieren. Die Studiengruppe kommt zum folgenden Schluss:
«Insbesondere ist nach traditioneller Praxis und Rechtsanschauung dem Neutralen nicht verwehrt, mit militärischen Stellen anderer Staaten gemeinsame Abwehrmassnahmen vorzubereiten.» [1].
«Die Neutralität soll die Sicherheit des Landes fördern, nicht die Verteidigungsfähigkeit schmälern. Sie darf den neutralen Kleinstaat nicht daran hindern, die nötigen Vorkehren gegen neue Bedrohungen zu treffen und allfällige Lücken in seinem Verteidigungsdispositiv durch grenzüberschreitende Vorbereitungen der Abwehr zu schliessen. Das um die letzte Jahrhundertwende konzipierte Neutralitätsrecht bezieht sich auf das Verhalten des neutralen Staates im Krieg, nicht jedoch auf vorbereitende Verteidigungsmassnahmen in Friedenszeiten.
Die Schweiz hat also nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, jene militärischen Vorkehren zu treffen, die nach Treu und Glauben von ihr gefordert werden können, um sich in Zukunft erfolgreich gegen Angriffe zu verteidigen.
Schlussfolgerung
Die Armee kann den verfassungsmässigen Auftrag zur Verteidigung der Bevölkerung und des Territoriums ohne Kooperation mit einem Partner nicht mehr erfüllen. Die neuesten Entwicklungen in Europa sind ein handfester Beweis dafür. Sinnvolle und wirksame neue Formen von Kooperationen der Schweiz müssen über die aktuellen Kooperationen im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden (PfP) und Rahmen anderer Institutionen der NATO und der EU hinausgehen. Zurzeit geben sich viele Staaten überzeugt davon, dass eine allein auf sich gestellte Verteidigung aus technologischen und finanziellen Gründen nicht mehr zu bewältigen sein wird.
Strategiegruppe der Vereinigung «Pro Militia»
Daniel Urech, Oberst a. D.
Martin Oberholzer-Riss, Oberst a. D.
Literatur
1 Bundesrat (1994). Bericht zur Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren. Anhang: Bericht zur Neutralität (S. 213) vom 29. November 1993. Bern, https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1994/1_153__/de.
2 Bundesrat (1994). Bericht zur Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren. Anhang: Bericht zur Neutralität (S. 222) vom 29. November 1993. Bern, https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1994/1_153__/de.